Hemmersmoor, von Stefan Kiesbye

Hemmersmoor by Stefan Kiesbye

My rating: 1 of 5 stars


Hemmersmoor ist der Eingang zur Hölle.”, so endet der Klappentext und genau so ist mein Eindruck nach der Lektüre dieser Ansammlung von lose miteinander verwobenen Erzählungen über das fiktive Dorf Hemmersmoor und seine mehr als eigenartigen Bewohner.

Leider ist die hier heraufbeschworene “Hölle” jedoch eine literarische, denn im Grunde ist das, was Kiesbye sich hier ausgedacht hat, ein obszöner, widerlicher Morast der Gewalt-Pornographie. Ein Beispiel:

Wir waren noch immer im Stimmbruch, als wir […], […] und […] vergewaltigten.

Damit ist dann auch schon alles wesentliche zum Inhalt gesagt; alle Geschichten drehen sich um Aberglaube…

Käthe Grimm war dem Blick eines heulenden Hundes gefolgt, als sie siebzehn Jahre alt war, und seitdem sah sie Irrlichter und schauerliche Trauerprozessionen nach Einbruch der Nacht und verfolgte die Hochzeiten der Untoten

… Rache…

Ich hatte mir meine Rache so lange ausgemalt, und ich hatte [ihn] nicht genug leiden sehen.

… Brutalität und Grausamkeit.

Es fängt klein damit an, daß statt Blätter zwischen den Seiten schwerer Bücher zu trocken, diese “Methode an Eidechsen und Blindschleichen” erprobt wird und dabei vom Autor geradezu genußvoll die letzten Zuckungen der Tiere beschrieben werden.

Nun könnte man mir entgegenhalten, dies möge dem Zweck dienen, die Grausamkeit der Kinder darzustellen und quasi die Szenerie literarisch aufzustellen. Leider ist es jedoch so, daß derart viel Gewalt beschrieben wird, daß ein Abstumpfungseffekt unausweichlich ist – ab einem bestimmten Punkt ist auch der “Ekel-Faktor” einfach ausgereizt.

Auch wenn man über Menschen schreibt, die geradezu klischeehaft selbstsüchtig, egoistisch, eifersüchtig und rachsüchtig sind, gleichzeitig aber wehleidig und voller Selbstmitleid, so kann man dies doch auf eine zumindest spannende oder zumindest interessante Art und Weise tun. “Hemmersmoor” läßt jedoch auch dies schmerzlich vermissen – egal wie dramatisch die Erzählung ist, Kiesbye erzählt monoton, schleppend und manchmal geradezu einschläfernd langweilig vom Tun seiner Protagonisten; “erschreckend direkt” nennt das wiederum der Klappentext. Ich nenne es “erschreckend banal”.

Erschwerend hinzu kommt, daß es absolut keine Identifikationsfiguren in Hemmersmoor gibt – jede einzelne Figur wird auf ihre Weise schuldig an anderen. Mal gravierender, z. B. beim lapidar erzählten Baby-Mord oder Vergewaltigung, und manchmal dann etwas weniger, z. B. bei der an den Katzenschwanz gebundenen Dose.

Keine der Figuren dieses Buches zeigt auch nur ansatzweise Anteilnahme oder echte Empathie; man schämt sich vielleicht kurzfristig ein wenig, aber es dominiert das “Wegducken”, das Wegsehen und Weghören. Die Dorf”gemeinschaft” ist in Wahrheit ein völlig unrealistischer und absurder Pfuhl menschlichen Versagens.

Die eigene Schuld wird dabei in den Hintergrund geschoben und grob verharmlost:

»Ich erwarte nicht, dass deine Eltern mich mit offenen Armen empfangen, aber was geschehen ist, war ein dummer Jungenstreich. Ich wollte deinen Bruder nicht umbringen.«

Mißgunst, Schadenfreude und Neid regieren Hemmersmoor und es wird sich weidlich ergötzt am echter oder, wie im nachfolgenden Beispiel, falscher “Schande”:

[Ihre] Schande, ein Kind unter ihrem Herzen zum Traualtar tragen zu müssen, brachte Leben in einen trostlosen, matschigen Februar.

Merkwürdig ist auch, daß es keine Polizei oder andere Ordnungsmacht zu geben scheint; da wird eine ganz Familie öffentlich ermordet, ihr Haus niedergebrannt und ihre Leichen verscharrt und niemanden kümmert es.
Ja, es ist wohl nur einige Jahre nach dem zweiten Weltkrieg, während dessen die Nationalsozialisten den millionenfachen Mord an Juden, Behinderten, Homosexuellen und vielen weiteren Gruppen begangen haben. Auch in diesen Fällen hat die Bevölkerung weitestgehend weggesehen, aber hier geht es um Menschen in der Mitte der Dorfgesellschaft.
Selbst wenn man kritiklos die Abwesenheit jedweder Ordnungsmacht akzeptiert – in diesem Dorf wird jedes Geschehnis zum eigenen Vorteil genutzt, dieses aber nicht?


Das alles ist sehr schade, denn Kiesbye gelingen immer mal wieder Formulierungen, die mehr versprechen, als das Buch letztlich halten kann:

Ich hatte mich im Jahr zuvor zur Ruhe gesetzt und seit Jahrzehnten nichts von meiner Familie gehört. Ich hatte sie an den Rand des Vergessens getrieben und dort gefangen gehalten, wie wilde Tiere.

Dergleichen kreative und wirkungsstarke Bilder werden aber immer wieder durch platte Versuche, einen Schock-Effekt zu erzielen untergraben:

Ricos Augen hatten mich fasziniert. Ich musste mir so ein Paar besorgen.


“Hemmersmoor” ist eine vertane Chance, das Dorfleben gerade so zu verfremden, daß es tatsächlich spannend, erschreckend und, wenn es sein muß, auch brutal wirkt. In der vorliegenden Fassung jedoch ist es nur abstoßend, monoton und – über weite Strecken – einfach nur langweilig.

Mit Ausnahme einiger weniger gelungener sprachlicher Konstrukte weist “Hemmersmoor” auch keinerlei Eigenschaften auf, die diese Buch-gewordene Gewalt-Orgie rehabilitieren könnten.

Ich jedenfalls fühle mich nach dieser Lektüre beschmutzt und angeekelt wie schon seit langem nicht mehr.





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