Möchte die Witwe angesprochen werden, platziert sie auf dem Grab die Gießkanne mit dem Ausguss nach vorne, von Saša Stanišić
Möchte die Witwe angesprochen werden, platziert sie auf dem Grab die Gießkanne mit dem Ausguss nach vorne von Saša Stanišić
Meine Bewertung: 5 von 5 Sternen
Saša Stanišić macht es mir nie leicht: Sein “Herkunft” hat mich erst wenig gereizt und am Ende “gepackt”, wie es nur seltene Ausnahmeerscheinungen schaffen. Nun sitze ich an meinem Schreibtisch unmittelbar nach Abschluss der Lektüre seines neuesten Werkes mit dem leicht sperrigen (und doch vollkommen passenden!) Titel “Möchte die Witwe angesprochen werden, platziert sie auf dem Grab die Gießkanne mit dem Ausguss nach vorne” geht es mir ähnlich…
»Was das genau soll, wird nicht klar.«
Genau so ging es mir als Leser an jener Stelle auch. Und wie schon bei “Herkunft” habe ich die Gelegenheit genutzt, die Skepsis, die Verwirrung und die Irritation bewusst zu verdrängen und mich auf die Geschichten einzulassen, die Stanišić hier einmal mehr meisterhaft erzählt.
Lose verbunden durch den roten Faden der Grundidee – Leben probehalber “anzuprobieren” und sich für deren Annahme oder Ablehnung zu entscheiden – erzählt Stanišić von wirklichen und “anprobierten” Leben. Umfassend, empathisch und meist mit einem Augenzwinkern…
»Wir vier zum Beispiel. Ausländer in Deutschland. Ja, auch du, Nico, deine Mutter ist DDR, das zählt.«
Gerade die frühen Helgoland-Sequenzen waren für mich zunächst weitgehend undurchdringlich und nur mäßig verständlich. Mit den späteren Erzählungen werden aber Mosaiksteinchen hinzugefügt, so dass sich letztlich auch hier ein klareres Bild einstellt.
Bei aller Fantasie und aller literarischer Verspieltheit ist Stanišić doch klar und unzweideutig positioniert…
»Er war diesmal in Uniform gekleidet, Mo, ganz in Schwarz. Auch die Mütze war schwarz, und darauf, sowie auf der Brusttasche, steckte dieser Hakenkreuzadler. Hundertpro verboten, heute aber wieder mehr im Gebrauch.
Wo dieser Tage solch eine Uniform zu finden ist, da ist normalerweise auch entweder ein thüringischer Politiker auf einer von einem CDU-Mann gesponserten Feier im kleinen Kreise, eine kontroverse Ausstellung oder ein Theaterstück. Mo konnte zwar vieles sein, aber ein Nazi war er nicht, noch war er Museum oder Schauspieler, wobei Schauspieler noch am meisten.
Mo breitete die Arme aus!
Ich umarmte Mo.«
Unglaublich sympathisch und für mich der Höhepunkt des Buches: Die Geschichte um titelgebende Witwe Gisel, deren Hermann schon vor Jahren verstorben ist, der aber immer noch höchst präsent ist…
»Mit Hermann war nicht alles leicht gewesen, aber das meiste. Und darauf kommt es im gemeinsamen Leben an, dass man es miteinander meistens leicht hat.
Mit Hermann war immer jemand da: Hermann.
Mit Hermann brauchte sie nicht zaudern. Oder Hermann zauderte mit, das war auch schön.«
(Mit Dir, C., auch!)
Nun ist dies aber keine bittersüße Liebesschnulze aus der schlechten alten Zeit, und obschon sie sich dabei manchmal selbst überrascht, ist Gisel alles andere als ein trauerndes Mauerblümchen, das durch den nächsten Mann “errettet” werden muss…
»In Büchern ging es meistens um Liebe: Kam eine Frau vor, kam auch die Liebe vor. Gisel mochte solche Bücher nicht. Sie mochte Bücher, in denen eine Frau vorkam, und ein Flugzeug stürzte ab, und die Frau war die einzige Überlebende und schlug sich, bewaffnet mit einer Zahnbürste, fortan durch die Wildnis. Sie zähmte einen Bären, der ihr treuer Begleiter wurde.«
Gerade zum Thema Helgoland lässt Stanišić Heinrich Heine direkt und indirekt zu Wort kommen. Ganz im Gegensatz zum selbstgefälligen Bildungsprotz Umberto Eco, der damit seine intellektuelle Dominanz demonstrieren wollte, gelingt es Stanišić mit geradezu spielerischer Leichtigkeit durch Anknüpfen an Erfahrungen und Emotionen eine “tragfähige” (glaubwürdige) Brücke durch die Zeiten zu schlagen und so ist es nur folgerichtig, dass im Rahmen der “Anproben” möglicher Leben auch ein gewisser “Harry Heine” mit dabei ist.
Überhaupt gehören die Geschichten um die “Anproben” zu den weiteren Höhepunkten des Buches. Ein paar Allgemeinplätze und geradezu naturgesetzliche Selbstverständlichkeiten…
»Früher mit Kinobesuchen, lang ist der letzte her, eine deutsche Komödie, wie hieß die noch, war nicht komisch.«
… muß man schon über sich ergehen lassen, und Höhepunkte wie der “multikulturelle Faustdialog” (Herkunft: Herkunft) fehlen hier, aber die erzählerische und sprachliche Souveränität des Saša Stanišić suchen auch in diesem Buch in der deutschsprachigen Literatur des 21. Jahrhunderts ihresgleichen.
»Dann mach es, mach dieses Einloggen. Ich will, dass du dieses Leben hast und kein anderes.«
Fatih seufzt. »Mama, wir hatten und haben dieses Leben. Wir hätten unzählige andere haben können, weil wir unzählige andere Entscheidungen hätten treffen können, aber wir haben – zum Glück – solche getroffen, die dich zu meiner Mutter gemacht haben, und mich zu diesem heute ein bisschen gestressten Typen, der wieder Überstunden schieben wird, um den Fehler im System zu finden. Und der aber darüber total froh ist, weil er wahnsinnig gern Fehler sucht. Das kann nicht verschwinden, wir haben die Vergangenheit hinter uns und auch in uns, Mama.««
Für diese neuerliche Bereicherung der deutschen Literatur durch den auch noch ungeheuerlich sympathisch wirkenden Saša Stanišić habe ich nur noch eines übrig: Fünf von fünf Sternen (und zwei feuchte Augen wegen des Schlusses).
»Gräßlicher als der Patriotismus mit all seinen Geschwüren sind nicht einmal Zahnschmerzen.«
Ceterum censeo Putin esse delendam
View all my reviews