Herkunft, von Saša Stanišić

Herkunft

Herkunft, von Saša Stanišić

My rating: 5 of 5 stars


»Wo bist du zu Hause?« »Meine Sonne«, sagt Großmutter. »Meine Freude. Mein Esel. Begreif das endlich. Es zählt nicht, wo was ist. Oder woher man ist. Es zählt, wohin du gehst. Und am Ende zählt nicht mal das. Schau mich an: Ich weiß weder, woher ich komme, noch wohin ich gehe. Und ich kann dir sagen: Manchmal ist das gar nicht so schlecht.«


Ein neues Jahr und die erste Rezension – zu diesem Anlaß habe ich einmal mehr in meiner Muttersprache gelesen.

Saša Stanišić war mir als Autor völlig unbekannt und nur durch die Vorstellung seines Buches “Herkunft”, das den Deutschen Buchpreis 2019 gewann, in “Druckfrisch” und das Gespräch zwischen dem von mir hoch geschätzten Denis Scheck und Stanišić, wurde ich auf ihn aufmerksam.

Um es gleich vorweg zu nehmen: “Herkunft” ist ein überaus persönliches Buch und erzählt aus Stanišić’ Leben. Insofern mag nicht jeder sich mit diesem Werk anfreunden können. Auch ich tat mich insbesondere anfangs sehr schwer mit Stil und Inhalt:

Der Hund findet im Gebüsch einen Stück Stoff, blau, weiß, rot, wie die Fahne. Nicht zu glauben, flüstere ich. Der Hund riecht nach frisch gemähtem Gras. Ich langweile den Hund.

Allzu merkwürdig anekdotisch und sprunghaft kam mir das alles vor. Ein Buch aus vielen Fragmenten mit Sprüngen quer durch Zeit und Raum, vor und zurück. Von den 80’ern bis 2018, von Jugoslawien (als es das noch gab) bis Deutschland. Seltsam, manchmal anstrengend und, ja, auch recht lang.

Nach knapp einem Fünftel des Buches war ich drauf und dran, aufzugeben und ein weniger anstrengendes Buch zu lesen. Doch der “erzählte” Stanišić (handelt es sich doch um eine Mischung aus (viel) Erinnerung und (wohl wenig) Fiktion) war mir ungeheuer sympathisch und so lehnte ich mich geistig zurück und ließ mich schlicht auf das Buch ein.

Ab diesem Moment wurde “Herkunft” zu einem für mich streckenweise ungeheuer ergreifenden Buch. Bei allem Witz (“Müssen Flößer schwimmen können?”) und Geist, den dieses Buch versprüht, so habe ich dennoch viele Taschentücher gebraucht und auch jetzt – in der Rückschau – “schniefe” ich vor mich hin.

Es sind gar nicht so viele “neue Erkenntnisse”, die ich diesem Buch entnehmen konnte; vielmehr verspürte ich eine merkwürdige Verbundenheit, was des Autors “Philosophie” angeht:

»Ihr habt es mir nicht schwer gemacht. Das Dorf nicht, nicht die Schwiegereltern«, sagte Großmutter. Das gefiel mir: Es jemandem nicht schwer zu machen, genau darum sollte es doch überhaupt und immer gehen.

Nicht “leicht machen”, aber es jemandem nicht schwer machen – eine einfache und doch überaus menschenfreundliche Einstellung.

Ich erwähnte bereits, daß “Herkunft” ein überaus persönliches Buch ist. Insofern steht es mir eigentlich nicht zu, mich über manche Längen im Buch zu echauffieren. Obschon ich zeitweise der Ansicht war, daß eine radikale Kürzungen dem Lese- und Erzählfluß vielleicht gut getan hätten. Andererseits bedarf es vielleicht gerade der Länge, um dem Sujet gerecht zu werden:

Heimat, sage ich, ist das, worüber ich gerade schreibe. Großmütter. Als meine Großmutter Kristina Erinnerungen zu verlieren begann, begann ich, Erinnerungen zu sammeln.

Auch sprachlich ist das Buch ein Genuß; noch nie zuvor habe ich beispielsweise vom “multikulturellen Faustdialog” gehört.

Bei allem Persönlichen bezieht Stanišić jedoch auch ganz klar politisch Stellung, was man ihm gerade heute hoch anrechnen muß:

Welten vergehen, stellt man sich denen, die sie vergehen lassen wollen, nicht früh und entschieden in den Weg. Heute ist der 21. September 2018. Wäre am nächsten Sonntag Bundestagswahl, käme die AfD auf 18% der Stimmen.

Eine erschreckende Erinnerung, daß die Herrschaft der Nationalsozialisten wohl doch schon für viele Wähler zu lange zurückliegt.


Der letzte Teil des Buches ist auch formal eine Zeitreise – wer um die 40 ist, wird sich wahrscheinlich aus den 80’ern an die sogenannten “Spielbücher” erinnern, die man “kreuz-und-quer” las – wer das nicht kennt, dem möchte ich die Überraschung nicht nehmen und allen anderen sei gesagt, das Stanišić hier noch einmal zu fantasievoller erzählerischer Hochform aufläuft.

Eine so schöne und persönliche Definition von Herkunft ist selten und absolut lesenswert.

»Ein Stanišić, noch ein Stanišić und noch einer«, frohlockte Gavrilo. Sein Atem ging schnell, er stellte sich aufrecht hin, um sich Platz zu verschaffen. Die Luft wog schwer vor Ahnungen und Ahnen. »Und sie fanden den geeigneten Ort«, rief er. »Der Ort ist hier! Oskoruša! Hier schlugen sie ihre Wurzeln! Stanišić, Stanišić, Stanišić. Und jetzt – jetzt kommst du!« Um darüber zu schreiben? Über Vorfahren und Nachkommen. Gräber und Tischdecken und Wiedergänger. Überlebende. Und jetzt ja wohl auch über Drachen.




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