Blaue Frau, von Antje Rávik Strubel

Blaue Frau by Antje Rávik Strubel

My rating: 5 of 5 stars


Aufwühlend, bewegend, anstrengend, schwer „verdaulich“, unbedingt lesenswert und wichtig!

»Es braucht klare Ansagen, wenn die, die ihre jahrhundertealte Meinungshoheit verlieren, diesen Verlust zum Ende der Meinungsfreiheit erklären.«

Ursprünglich aufmerksam auf “Blaue Frau” wurde ich durch die Vorstellung des Buches und dem Interview Denis Schecks mit Antje Rávik Strubel in dessen Sendung “Druckfrisch”.

Erst jedoch als ich Strubels in mehrerlei Hinsicht emotionale Dankesrede zum gewonnenen Deutschen Buchpreis sah, rückte dieses Buch sofort an die Spitze meines Stapels ungelesener Bücher.

Antje Rávik Strubel erzählt in “Blaue Frau” die Geschichte Adinas, einer jungen Tschechin, die während eines Praktikums in Deutschland sexualisierte Gewalt erlebt. Dabei arbeitet sich die Erzählerin durch Zeit und Raum und die verschiedenen Ebenen und Perspektiven ihrer Figuren.

Gerade im ersten Teil empfand ich dies teilweise als anstrengend und verwirrend – manchmal wurde mir erst im zweiten oder dritten Satz klar, wo und wann wir uns befinden. Die Autorin nötigte mir äußerste Aufmerksamkeit ab, legte dafür aber vorsichtig und behutsam nicht nur ihre Geschichte, sondern auch ihre Figuren schichtweise frei, ohne letztere dabei jemals bloßzustellen.

Was Adina er- und widerfährt, erzählt Antje Rávik Strubel überaus berührend, aber nie sentimental. Sie erzählt nicht von Gefühlen, sondern versteht es meisterhaft, diese mittels ihrer über weite Teile geradezu poetischen und gleichzeitig überaus präzisen Sprache lebendig werden zu lassen.

Dabei zielt Strubel nie auf Mitleid ab, sondern auf Miterleben und resultierendes Mitgefühl und das gelingt ihr – insbesondere ab etwa dem zweiten Drittel von “Blaue Frau” – wie sonst kaum jemandem.

Die Geschichte von Adinas Odyssee aus ihrem Heimatort in Tschechien nach Berlin über die Uckermark und schlußendlich nach Helsinki hat mich zeitweise vollkommen in ihren Bann gezogen. Förmlich eingesaugt in das Geschehen, bemerkte ich kaum, wie ich “plötzlich” von der Hälfte auf die letzten Seiten dieses Romans gelangte.

Die Einschübe, während derer die namensgebende “Blaue Frau” auftaucht und mit der die Schriftstellerin Zwiesprache hält, erlauben es nicht nur, das vorher Gelesene zu “verdauen” (was für mich nicht immer leicht war), sondern helfen auch bei der Reflexion desselben und tragen maßgeblich zum Verständnis bei. Nicht zuletzt waren sie mir auch stellenweise eine willkommene “Entschleunigung” und Befreiung aus dem Sog des Geschehens.

Durch Adinas Zusammentreffen mit Leonides Siilmann, einem estnischen Politikwissenschaftler, erfahren wir zudem scheinbar am Rande und doch wichtig für die Geschichte, über die doch sehr unterschiedliche Erinnerungskultur in Ost und West: War für das damalige West-Europa mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges die Zeit der Diktatur beendet, so waren doch die Jahrzehnte von 1945 bis 1991 – dem Untergang der Sowjetunion – für Ost-Europa, hier vertreten durch Estland, durch eine Diktatur unter anderem Vorzeichen geprägt.

»Erst, wenn eine Französin, wenn ein Deutscher bereit sind, zu sagen, der Gulag ist unser ureigenes Problem, so wie Auschwitz unser ureigenes Problem ist, steuern wir nicht mehr auf ein westliches, ein östliches, ein mittleres Europa, also auf den Zerfall Europas zu!«

Es ist ein weiteres großes Verdienst Antje Rávik Strubels, die selbst in der zweiten deutschen Diktatur gelebt hat (wir erinnern uns: 1989 erst fiel die Mauer, die Wiedervereinigung beider deutscher Staaten war 1990), uns unaufdringlich auf die daraus resultierenden Unterschiede aufmerksam zu machen.

Mit der in achtjähriger Arbeit entstandenen “Blauen Frau” hat Antje Rávik Strubel einen Roman von existentieller Kraft und Wucht geschaffen, der völlig verdient den Deutschen Buchpreis 2021 erhalten hat. Mich hat “Blaue Frau” in ihren Bann gezogen, eingesaugt mitten in die Wirklichkeit des Romans und nicht mehr losgelassen.

Mich freut das auf vielerlei Ebenen: Für mich persönlich, denn das endende Jahr 2021 bescherte mir noch einen literarischen Paukenschlag und ein weiteres Buch, das sich augenblicklich zwischen meinen absoluten Favoriten wiederfindet.

Zu so unterschiedlichen Autor_innen wie Thomas Mann, Marion Gräfin Dönhoff, Siegfried Lenz, Mechtild Borrmann und Kristin Hannah gesellt sich mit Antje Rávik Strubel eine offen “queere” feministische Persönlichkeit. Das sorgt – hoffentlich noch für Jahrzehnte – für Diversität in der Literatur und neuen Geist in (nicht nur) alten Köpfen.

»Es gehörte zur Würde des Menschen, mit seinem richtigen Namen angesprochen zu werden, dachte Kristiina, auch wenn manche im Korrekten eine Doktrin sehen wollten, die sie dann verunglimpften.«

Die Vielschichtigkeit betonend und feiernd, beendete Antje Rávik Strubel folgendermaßen ihre anfangs bereits erwähnte Dankesrede:

»Rávik und ich sind Schriftstellerinnen, nicht Schriftsteller, und als solche manchmal ausgezeichnet mit einem Sternchen. Vielen Dank!«

Von mir sind es – und das fühlt sich geradezu vermessen an – fünf Sterne.


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