Die Anomalie, von Hervé Le Tellier

Die Anomalie by Hervé Le Tellier

My rating: 2 of 5 stars


Die deutschsprachige Wikipedia definiert Glosse folgendermaßen:

»Unter einer Glosse (von altgriechisch γλῶσσα glóssa, „Zunge, Sprache“, über lateinisch glossa) wird ein meist kurzer und pointierter, oft satirischer oder polemischer, journalistischer Meinungsbeitrag in einer Zeitung, einer Zeitschrift oder im Fernsehen verstanden.«
(Quelle in der Fußnote)

Mit “Die Anomalie” liefert Hervé Le Tellier ein Werk ab, das mich über weite Teile an eine Glosse erinnerte, aber vom Umfang her dieses Genre “sprengt”. Nun könnte dies ja auch etwas Gutes sein; ein Novum oder, Entschuldigung!, eine Anomalie.
Leider aber ist dem hier nicht so, denn “Die Anomalie” ist nur quantitativ eine solche – aber eben keinesfalls qualitativ.

Die Prämisse ist interessant: Ein Flugzeug mit über zweihundert Personen an Bord gerät in eine Notlage, übersteht diese, wird aber jedoch durch die titelgebende Anomalie dupliziert. Fortan gibt es alle Menschen an Bord also mehrfach.

Was der Autor zu erzählen hat, könnte als Essay, als Kurzgeschichte, als Gedankenspiel anhand beispielsweise einer Person interessant sein. Auch eine längere Erzählform wäre vorstellbar, böte dies doch die Gelegenheit, die philosophischen und ethischen Aspekte der erzählten Geschichte näher zu untersuchen.

Angesichts der vielen Personen, die wir aber im vorliegenden Roman begleiten, verliert sich die jeweilige Geschichte einzelner (z. B. das des krebskranken Piloten oder des mißbrauchten Kindes) in der Beliebigkeit der Vielfalt. Eine wirkliche Nähe auch nur zu einer der Personen kann auf diese Weise gar nicht erst aufkommen.

Gleichzeitig aber wirkt diese Mannigfaltigkeit aber auch umgekehrt: Durch die Zerfaserung der Gesamterzählung in viele kleine Teilbereiche, gibt es nur eine minimale “Rahmenhandlung”; die verschiedenen Theorien zum Ursprung der Anomalie werden nicht “zu Ende gedacht” und obschon mit dem buchstäblich letzten Satz eine (unbefriedigende) Auflösung gelingt, bleibt diese Auflösung hohl und ohne wirklichen Erkenntnisgewinn.

Meines Erachtens wäre ein offenes Ende – ohne Gewolltheit und mit Brachialgewalt herbeigeführten “Knalleffekt” – hier interessanter gewesen.

Das letzte Viertel, in dem dann endlich doch etwas spürbare Emotionen sichtbar werden, in dem es Le Tellier tatsächlich gelingt, sprachlich wie inhaltlich noch etwas Echtheit in seinen ansonsten eher “gekünstelt” wirkenden Roman zu bringen, versöhnt ein wenig mit dem Rest des Buches, jedoch wird dies zunächst durch einen radikalen Akt einer Figur und kurz darauf durch einen ebensolchen des Autors wieder zunichte gemacht – schade!

“Die Anomalie” ist für mich sozusagen ein “Denkmal der verschenkten Möglichkeiten” – aus einem guten Ansatz weiß der Autor nicht wirklich etwas zu erschaffen. Seine Figuren bleiben blaß und – in vielerlei Hinsicht – unwirklich und holzschnittartig.
Einige Figuren gar, z. B. der US-amerikanische Präsident, werden als Karikaturen ihrer selbst dargestellt und erinnern somit weniger an ihre realen Vorbilder (im vorgenannten Beispiel ist es ein überaus plump “kaschierter” Trump), sondern vielmehr an simpelsten Slapstick.

Am Ende bleibe ich enttäuscht zurück: Im Persönlichen der Charaktere überzeugt der Autor mich nicht und “das große Ganze” versinkt in der Beliebigkeit der Möglichkeiten.

Zwei von fünf Sternen.



Quelleangabe zum Wikipedia-Zitat:
Seite „Glosse“. In: Wikipedia – Die freie Enzyklopädie. Bearbeitungsstand: 14. August 2021, 02:43 UTC. URL: https://de.wikipedia.org/w/index.php?… (Abgerufen: 25. Januar 2022, 16:24 UTC)




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