Die Besessenen, von Witold Gombrowicz

Die Besessenen von Witold Gombrowicz

Meine Bewertung: 4 von 5 Sternen


»Der eigentliche Held, der alle anderen in den Schatten stellt, ist ganz sicher das Schloss Mysłocz, um das sich die authentischen Zaubereien ranken. Ein Monument der Unbeweglichkeit und des Schweigens, so taucht es aus der Nacht auf, aus dem Morast, erhebt sich aus dem Nebel, aus dem Wald, um Elegie zu verströmen oder Skandale zu entfesseln. Ganz zwanglos erhält der Raum des Romans eine Ordnung: verborgene Gemächer und unterirdische Gänge im feudalen Mysłocz, gemütlicher Speisesaal im verbürgerlichten Połyka, Gedränge und anrüchiges Durcheinander in den Etablissements von Warschau. Die Zeit drängt, dehnt sich aus oder verkürzt sich, wenn es darum geht, die zweifache Version eines Mordes vorzuführen.«

Man soll seinen Helden nicht begegnen, denn man wird enttäuscht. Ebenso wenig sollte man wohl seinen glorifizierten Lieblingsbüchern wiederbegegnen…

Die Besessenen” von Witold Gombrowicz haben mich vor gut 30 Jahren geradezu überfallen und in ihren Bann gezogen – mein Bruder schenkte mir das Buch und mit meinen rund 17 Jahren war es mir unwiderstehlich: Ein düsteres, verfallendes Schloss umgeben von Wald und Moor, ein wahnsinniger Fürst, der letzte seines Geschlechts, ein merkwürdiges Handtuch, das bebt, würgt und zittert – zwei junge Liebende (in meinem damaligen Alter auch noch!), die sich so sehr ähneln, dass sie einander verabscheuen und doch nicht voneinander lassen können?

Hinzu kam: “Die Besessenen” erschien im Original vom 4. Juni bis zum 31. August 1939 als Fortsetzungsroman gleichzeitig in zwei Tageszeitungen. Hitlers Überfall auf Polen am 1. September 1939 verhinderte die Vollendung. 1973 wurde es vom Autor wiederentdeckt. Das Ende jedoch blieb bis 1986 verschollen.

Ja, es fühlt sich an, als wäre ich damals ein anderer gewesen – und vielleicht liegt es daran, dass “Die Besessenen” nach glühender Verehrung damals für mich heute nur noch interessant sind.

Seit damals habe ich – wie besessen – alle deutschen Ausgaben des Romans gekauft und gern auch verschenkt.

Es gibt nur eine Ausgabe, die ich nie gefunden habe: das eBook, das ich heute als einzige Buchform lese. Auch die noch lebenden Nachfahren Gombrowicz’ bestätigten mir nur mit Bedauern, dass es schlicht keine deutsche eBook-Ausgabe gibt.

Das wollte ich schon seit Jahren für mich selbst ändern und so kaufte ich kurzentschlossen antiquarisch die mir liebste Ausgabe (Übersetzung von Klaus Staemmler, dtv-Taschenbuch mit Kerze auf dem Cover), säbelte den Einband weg, jagte es durch einen guten Scanner und schuf mit erheblichem Aufwand mein eigenes eBook, das ich selbstverständlich auch gleich lesen mußte!

Schnell nahm mich die etwas altmodische (kein Wunder, spielt doch die Handlung in 1938; dem Jahr, in dem Gombrowicz auch die Arbeit am Roman aufgenommen haben dürfte), aber doch großartige Sprache gefangen:

»Aber der Mond schien bereits über der endlosen Ebene, aus der hier und da phantastische Baumsilhouetten ragten. In seinem blassen Schein zeigte sich weißliches Wasser, der Muchawiec schob träge seine Strömung durch die Ebene, kam kaum von der Stelle und bildete riesengroße Ausuferungen.«

Majas und Leszczuks ungestüme, schwierige Hass-/Liebesgeschichte war immer noch schön zu lesen, auch wenn ich manche Grausamkeit (armes Eichhörnchen!) und Gewalt nicht mehr in Erinnerung hatte. Beider Erkenntnis, einander zu ähneln; geradezu zwei Teile, die zu einem großen Ganzen gehören, zu sein, ist interessant. Gleichzeitig davon angezogen und abgestoßen zu sein, macht einen Teil des Reizes aus und spielt eine entscheidende Rolle im Kern des Romans: Die Suche nach Identität.

Maja fühlt sich noch der gehobenen Klasse der Gutsbesitzer angehörig – aber das elterliche Gut, verwaltet von ihrer Mutter, ist eine kleine, schlecht gehende Pension für Stadtmenschen, die Maja und ihre Mutter gleichzeitig als niederrangig verachten, auf die sie aber für ihren Lebensunterhalt angewiesen sind.

»Warum hatte ich, dachte sie, die ich schließlich unter anderen Bedingungen und in weniger demokratischen Zeiten erzogen wurde, nie dieses absolute Überlegenheitsgefühl?«

(Damals wie heute war es allerdings mit der polnischen Demokratie nicht allzu weit her…)

Gleichzeitig aber will Maja bewußt mit diesen überkommenen Vorstellungen brechen und scheut doch davor zurück:

»Sie fürchtete sich vor dem Schloss, vor ihrem Verlobten, am meisten aber vor sich selbst, vor den Gefahren, die in der Tiefe ihrer eigenen, allzu kühnen, allzu unruhigen, allzu glücksbegierigen Natur auf sie lauerten. Die altertümlichen, düsteren, der Vergangenheit zugehörigen Mauern schienen zu flüstern: Wehe dem, der leichtherzig dem flüchtigen Glück nachjagt!«

Der alternde (vermeintlich?) abgeklärte Professor, dem die sich verändernde Welt fremd wird…

»Der Professor empfand ein instinktives Misstrauen gegenüber Frauen wie Maja, die ihn durch Unabhängigkeit, vorzeitige Reife und eine Ungezwungenheit, die keine Hemmnisse kannte, entsetzten.«

… der aber nicht an jedwede Besessenheit glauben mag und doch im Laufe der Handlung sozusagen vom Paulus zum Saulus wird; auch er sucht: Erst nach Schätzen, dann mehr und mehr nach Erkenntnis über die Natur der Besessenheit und den sehr irdischen Ursprüngen des Wahnsinns des Fürsten.

Leszczuk sucht generell seinen Platz und taumelt von Ort zu Ort, bis er auf Maja trifft und dieser verfällt. (Wahrscheinlich trug auch das zu meiner Begeisterung bei: Ich selbst suchte meinen Platz, hatte meine erste große Liebe gefunden, glaubte manches und wusste nichts.)

Der wahnsinnige alte Fürst sucht sich selbst und seinen Franio, seinen illegitimen Sohn, der unter mysteriösen Umständen aus einer verfluchten Kemenate des Schlosses verschwand…

Cholawicki, des Fürsten boshafter und verschlagener Sekretär, dient als brutaler und widerwärtiger Gegenspieler, der aber gleichzeitig Majas Verlobter ist und auch diese zwei sind aneinander gefesselt.

Gleichzeitig – und das habe ich erst jetzt verstanden – sind letztlich alle Handelnden “besessen”: Von sich, von der Gier nach Macht, Geld und Geltung, von einander, vom Schloss, vom Übersinnlichen und selbst das Schloss ist buchstäblich besessen – oder nicht?

Vollständig wird diese Frage nicht geklärt – und das ist auch gut so, denn zumindest das spricht sowohl den Wulf von damals (“Es gibt mehr Ding’ im Himmel und auf Erden, als Eure Schulweisheit sich träumt, Horatio.”) als auch den von heute (“Alles Existierende ist prinzipiell wissenschaftlich erklärbar, wobei unsere Fähigkeiten und Werkzeuge zur vollständigen Erklärung sich noch entwickeln; was sich dieser Erklärung entzieht, existiert folglich nicht.”) an und läßt allen Rezeptionen Raum.

Letztlich, so spitzt es Gombrowicz im letzten Satz des Romans trefflich zu:

»In dieser Welt voll Unklarheit und Rätsel, Dämmerung und Trübheit, Seltsamkeit und Irrtum gibt es nur eine untrügliche Wahrheit — die Wahrheit des Charakters!«

Bei aller fehlenden Begeisterung kann ich nicht umhin, auch mich selbst zu den “Besessenen” zu zählen – vier von fünf Sternen für einen einzigartigen Roman.


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